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Positionspapier der BdSAD zur Rolle qualifizierter Alltagsbegleitung in der Pflegereform

September 2025

Senioren-Assistenz und qualifizierte Alltagsbegleitung als dritte Säule der ambulanten Versorgung verankern

Die BdSAD fordert, qualifizierte Alltagsbegleitung schon vor Eintritt einer Pflegebedürftigkeit als zentrale Säule einer zukunftsorientierten Pflegereform zu verankern – und darüber endlich in den politischen Dialog zu treten.

Warum qualifizierte Alltagsbegleitung?

Seit der Coronapandemie wird Alltagsunterstützung in der Öffentlichkeit zunehmend als sinnvoll und notwendig wahrgenommen. Dennoch bleibt ihr tatsächlicher Umfang und ihre präventive Wirkung politisch weitgehend „unsichtbar“. Dabei ist klar:

  • Qualifizierte Alltagsbegleitung kann Pflegebedürftigkeit verzögern oder sogar verhindern.
  • Sie trägt zur Kosteneinsparung bei, etwa durch die Vermeidung stationärer Pflege.
  • Sie stärkt Selbstständigkeit und Lebensqualität im Alter.

Care-Arbeit: strukturell unterschätzt

Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen geleistet – oft unbezahlt oder in Teilzeit. Die politische Forderung, Teilzeitkräfte sollten mehr arbeiten, ist nur realistisch, wenn gleichzeitig verlässliche Alltagsunterstützung vorhanden ist.

Während es in der Kinderbetreuung Kitas und Ganztagsschulen gibt, fehlen vergleichbare Angebote für Senior*innen:

  • Tagespflege ist erst ab Pflegegrad 2 möglich – und oft nicht flächendeckend verfügbar.
  • Über 90 % des dafür vorgesehenen Budgets verfällt ungenutzt. Diese Mittel müssen auch für häusliche Entlastungsangebote nutzbar sein.
  • Die sogenannte „24-Stunden-Pflege“ bleibt rechtlich in einer Grauzone, obwohl sie eine sinnvolle Möglichkeit darstellt, die für über 80 % der Pflegebedürftigen bevorzugte Versorgungsform in der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen.

Senioren-Assistenz als weitere Säule der ambulanten Versorgung

Qualifizierte Senioren-Assistenz und Alltagsbegleitung müssen als eigenständige Säule der ambulanten Versorgung gesetzlich verankert werden – gleichberechtigt neben Pflegediensten. Wer Prävention ernst meint, darf nicht länger an veralteten Versorgungsstrukturen festhalten.

Wir fordern daher ein „Vor-Pflegefall-Budget“, das präventive Leistungen finanziert und die Arbeit qualifizierter Senioren-Assistenz und Alltagsbegleitung explizit einschließt. Alles andere ist kurzsichtig und sozialpolitisch fahrlässig.

Die Diskussion um die Abschaffung des Entlastungsbetrags oder der Geldleistungen in Pflegegrad 1 und 2 – insbesondere durch den Verband der Privaten Krankenversicherung – ist nicht nur fehlgeleitet, sondern sozial blind. Wer hier kürzt, spart nicht – sondern verschärft Probleme, die später teuer werden.

Frühzeitige Hilfen erhalten Selbstständigkeit, Lebensqualität und Gesundheit. Sie fördern Aktivität, soziale Teilhabe und psychische Stabilität. Und sie sind nachweislich günstiger als die stationäre Versorgung im Pflegeheim. Wer das ignoriert, handelt gegen jede ökonomische und ethische Vernunft.

Auch ohne Pflegegrad sind staatliche Leistungen sinnvoll und notwendig. Der demografische Wandel ist kein Zukunftsszenario – er ist Realität. Schon heute lebt jeder fünfte Mensch über 65 allein. Wer hier keine neuen Versorgungsstrukturen schafft, nimmt Vereinsamung und Pflegebedürftigkeit billigend in Kauf.

Zentrale Argumente der BdSAD

  1. Pflegegrad 1 und 2 bedeuten nicht Selbstständigkeit in allen Bereichen. Menschen mit niedrigem Pflegegrad können vieles – aber nicht alles – allein bewältigen.
  2. Einsamkeit macht krank – und pflegebedürftig. Der Geriatrie-Report von Springer Medizin zeigt:
    • Soziale Isolation schwächt das Immunsystem.
    • Sie erhöht die Inzidenz chronischer Erkrankungen wie Bluthochdruck, Herzinsuffizienz und Diabetes.
    • Sie steigert das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte.
    • Sie führt zu körperlicher Inaktivität, Mangelernährung, Stürzen und Immobilität – und damit zu Pflegebedürftigkeit.
  3. Versorgungsstrukturen sind regional ungleich verteilt.
    • In Städten gibt es häufig gute kommunale Angebote.
    • In ländlichen und strukturschwachen Regionen fehlen pflegerische Dienste, soziale Infrastruktur und Mobilitätsangebote.
    • Der demografische Wandel erhöht die Nachfrage, während kommunale Steuerungsmöglichkeiten seit Einführung des Pflegemarkts begrenzt sind.
  4. Das Ehrenamt ist unerlässlich, ersetzt aber keine professionelle Versorgung. Weder vor noch nach Eintritt eines Pflegefalls darf erwartet werden, dass Angehörige – insbesondere Kinder – die Versorgung übernehmen müssen.

Konkrete Forderungen bei vorhandenem Pflegegrad

  1. Bereitstellung eines ausreichenden Entlastungsbudgets für Sorgende und Pflegebedürftige
    • Definition: Mindestens das Äquivalent eines freien 8-Stunden-Tages pro Woche
    • Staffelung nach Einkommen ist sinnvoll und gerecht
  2. Bundesweit einheitliche und niedrigschwellige Entlastungsangebote
  3. Einheitliche Anerkennung von Leistungsanbietern
    • Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden
  4. Wirtschaftlich tragfähige Vergütung für Alltagsentlastungsleistungen
    • Beispiel: In Hessen liegt der Stundensatz für anerkannte Einzelanbieter bei max. 30 €/Stunde – davon kann niemand leben
    • Nutzung des vollen Sachleistungsbetrages statt der derzeit möglichen Umwidmung von 40 %
    • Eine angemessene Vergütung schafft mehr Anbieter und verbessert die Versorgungslage
  5. Präventionsangebote müssen Teil der Begutachtung sein
    • Alltagsentlastung muss aktiv angeboten werden – nicht nur durch eine Liste, die Betroffene dann abtelefonieren müssen
    • Entwicklung eines Systems, das Anbieter direkt über Unterstützungsbedarf informiert
  6. Pflegeheime müssen 10 % ihrer Plätze für Kurzzeitpflege reservieren
  7. Die Politik sollte Alternativen zur Entlastung von Sorgenden in Betracht ziehen – z. B. die Etablierung von „Pflege-Hotels“
  8. Flexible Nutzung des Budgets für Tages- und Nachtpflege
    • Wenn Angebote fehlen, muss das Budget für häusliche Entlastung nutzbar sein
  9. Einführung eines Belohnungssystems für Rückgang der Pflegebedürftigkeit
    • Beispiel: Bei Rückstufung oder Rückkehr zur ambulanten Versorgung wird ein Teil der eingesparten Kosten als zusätzliches Präventionsbudget bereitgestellt

Prävention als Schlüssel zur zukunftsfähigen Pflegepolitik

Angesichts des demografischen Wandels ist es dringend notwendig, präventive Angebote auszubauen, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern. Das vorhandene Präventionsgesetz darf nicht ausschließlich in stationären Pflegeeinrichtungen zum Tragen kommen.

Die BdSAD schlägt daher ein strukturiertes „Vor-Pflege-Präventions-Budget“ vor, um die Selbständigkeit im Alter möglichst langfristig zu erhalten. Damit könnte Folgendes finanziert werden:

  • Regelmäßige Beratung ab Renteneintrittsalter Fakultativ alle drei Jahre bis zum 75. Lebensjahr, danach alle zwei Jahre bis 85, anschließend jährlich. Die Beratung kann vor Ort oder digital stattfinden und Themen wie Ernährung, Bewegung, geistige Fitness, Sozialverhalten, Vorsorgemaßnahmen, Impfungen, Reha zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit, Schulungen zur Selbstfürsorge sowie digitale Teilhabe durch einfache Techniklösungen und Unterstützung durch Senioren-Assistenzen oder Schülerprojekte beinhalten. Ein Anreizsystem – etwa Gutscheine bei freiwilliger Teilnahme – erhöht die Wirksamkeit.
  • Präventionspauschale zur Finanzierung individueller Unterstützungsangebote, z. B. qualifizierte Senioren-Assistenz
  • Finanzierung von Besuchsdiensten und Sozialmobilen („Rollender Kümmerer“) mit festen Wochentagen
  • Bereitstellung von Versorgungsboxen mit Pflegeprodukten, Snacks, Broschüren und Mitmachmaterial
  • Zuschüsse für Digitale Türöffner (analog eines Hausnotrufs) wie Tablets mit Videotelefonie, Soforthilfe-Button und Kontakt zu lokalen Hilfsangeboten
  • Finanzielle Stärkung des Ehrenamts, z. B. durch nachbarschaftsbasierte Mikro-Teams (2–3 Personen pro Straße), koordiniert durch Gemeinde, Feuerwehr oder Landfrauenverband

Fazit

Senioren-Assistenz und Alltagsbegleitung sind zentrale Bausteine einer zukunftsfähigen Versorgung älterer Menschen – mit und ohne Pflegegrad. Sie wirken präventiv, stärken Selbstständigkeit und Lebensqualität, entlasten Angehörige und vermeiden unnötige Heimaufenthalte.

Gerade in Zeiten des demografischen Wandels und struktureller Versorgungslücken sind sie unverzichtbar, um soziale Teilhabe zu sichern und Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern. Eine adäquate gesetzliche und finanzielle Absicherung ist daher nicht nur sozialpolitisch geboten, sondern auch ökonomisch sinnvoll.